1. Worin unterscheiden sich inferentialistische von nicht-inferentialistischen Theorien der testimonialen Erkenntnis (d.h. des Wissens durch das Zeugnis anderer)?
Inferentialistische Theorien gehen davon aus, dass die eigentliche Inferenz, also die Generierung eines neuen Epistems im Subjekt stattfindet. Konkret heißt das, dass ich die Aussage P einer dritten Person erst in irgendeiner Weise vor mir selbst rechtfertigen muss, bevor ich sie selbst verwenden kann.
Ist die Aussage nun 2 + 2 = 4, muss ich also mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln selbst überprüfen, ob diese Aussage Wahrheits- und Kohärenzkriterien erfüllt.
Ich muss also beispielsweise über darunterliegende Axiome, die mir bekannt sind, die Aussage extern (außerhalb von „Person X hat das gesagt, also kann ich das glauben") überprüfen.
Im simplen Beispiel also konkret das Ergebnis berechnen.
Wenn man so will, liegt also immer die “Beweislast” für meine eigenen Episteme bei mir und ich kann diesen Beweisaufwand nur begrenzt auslagern.
Eine sehr direkte Folge davon wäre, dass jeglicher Erkenntnisgewinn mit erheblicher, bewusster oder unbewusster Arbeit verbunden ist.
Dies wäre die wahrscheinlich logisch stringentere Theorie, gegen sie spricht aber die Phänomenologie eines Erkenntnisgewinns.
Eine Erkenntnis kommt uns oft vor wie ein “Heureka” Moment, wir “finden” sie, plötzlich ist sie da und wir können mit ihr arbeiten.
Eine nicht-inferentialistische Theorie legt ebendiese Beweislast nicht im Subjekt an, ich habe eine Erlaubnis, oder besser, ein Recht auf a-priori Annahme der Richtigkeit der Aussage.
“Person X hat mir P gesagt, also kann ich P verwenden” ist nun valide und bedarf erstmal keiner weiteren Überprüfung auf Richtigkeit. Diese Argumentationslinie ist deutlich kompatibler mit der phänomenologischen Erfahrung einer Erkenntnis im Alltag.
Wir stoßen aber auf deutlich größere Probleme, wenn wir uns fragen, woher eigentlich unser Recht auf Wahrheitsannahme von Drittaussagen kommt. Klar, 2+2=4, weil der Prof das an die Tafel geschrieben hat, ist die “schlechtere” Begründung als zu sagen, dass das Ergebnis aus gewissen mathematischen Axiomen deduziert wurde.
Wir befinden uns also nun in der Spannung der phänomenalistischen „Heureka"-Erfahrung des Findens von Epistemen (in nicht-inferentiellen Systemen) und dem Problem der schwachen Justifizierung von Aussagen gegenüber der erhöhten Stringenz eines epistemischen Systems, das externe (logische, probabilistische, normative etc.) Gründe für Aussagen zur Verfügung stellt, aber einen schier unüberwindbaren rechnerischen Aufwand darstellt. Auch das Problem der ersten Begründung bleibt bestehen. Angenommen, ich weiß noch nichts, habe bisher null Episteme gesammelt, wie wird das erste Epistem, das ich finde, begründbar sein?
Doxastische Verantwortung ist die Verantwortung für die Begründbarkeit des eigenen Netzwerkes aus Epistemen. Wenn mich also jemand fragt: „Warum glaubst du das?", ist es sozial im Allgemeinen erwartbar, dass ich darauf eine Antwort liefern kann. Und wie wir eben schon am Beispiel der Begründung für 2+2=4 gesehen haben, scheint es hier “bessere” und weniger gute Gründe zu geben, das heißt, eine Person kann zur Verantwortung gezogen werden, unzureichend begründete Episteme fallen zu lassen und eine gewisse Grenze zu ziehen, eine mindestens erwartbare Begründung. Diese kann sehr wahrscheinlich nicht universell formuliert werden. Eine Regel wie: Alle Bürger dürfen nur noch Aussagen weiterverwenden, denen sie eine mindestens 90-prozentige Wahrscheinlichkeit attestieren, ist aus diversen Gründen problematisch.
Frickers Auffassung doxastischer Verantwortung ist insofern speziell, als dass sie eine deutliche Verbindung moralischer Verantwortung (die wir offensichtlich alle in irgendeiner Form tragen) und doxastischer Verantwortung sieht. Sogar die Gründe sind oft überlappend. Eine gute moralische Begründung, die zum Beispiel der Wahrhaftigkeit, scheint ganz offensichtlich auch eine gute doxastische begründung zu sein. Diese Parallelität zieht Fricker heran, um neo-aristotelianische Moralbegründungen auch auf epistemischer Ebene wirksam zu machen.
Ich lasse mich da gern überzeugen von ihr und erachte es als sinnvoll doxastische Verantwortung in gewisser Weise moralisch bindend zu machen. Intuitiv wissen wir ja auch, dass unsere Erwartung, dass Dritte wahrhaftig mit uns interagieren, auf Gegenseitigkeit beruht und das Leben nicht nur normativ, sondern auch auf epistemischer Ebene “verbessert”. Dies liefert auch eine recht simplistische Rechtfertigung, annehmen zu können, dass Dritte mir die Wahrheit sagen. Ich tue ja auch immer mein Bestes, warum also die anderen nicht?